Selbstständig – ständig selbst

Der „Tag des Freelancers“ wird jährlich am 14. Mai begangen. Er soll die Aufmerksamkeit auf freiberuflich Tätige lenken, die mit ihrer selbstständigen Arbeit einen nicht unerheblichen – und zunehmend größeren – Beitrag für die Wirtschaft leisten.

Diesen Tag gibt es erstaunlicherweise noch nicht lange. Erst 2018 wurde er von der Nürnberger Plattform freelancermap.com initiiert. Der 14. Mai geht angeblich auf das Jahr 2005 zurück, als free-lance.ru ans Netz ging.

In den letzten Jahren haben sich flexible Beschäftigungsmodelle in größerem Maß entwickelt. Einen „Booster“ bekamen sie vor allem durch die Corona-Pandemie. Die Pandemie hat aber auch wie mit einem Skalpell die Schwierigkeiten freigelegt, die es im Zusammenhang mit der Arbeit als Freiberufler gibt. Strukturelle Probleme der Freiberuflichkeit wurden deutlich sichtbar. Gerade die Selbstständigen mussten sich oft bei den Corona-Hilfen als die vergessene Gruppe betrachten. In etlichen Branchen verhindert eine Vereinzelung der (Quasi-) Selbstständigen einen Zusammenschluss, um gemeinsame Interessen gegenüber oft sehr ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen durchsetzen zu können.

Vor einem Jahr hat sich mein Sohn (jetzt 37 Jahre alt) als IT-Spezialist selbstständig gemacht. Er ist der Meinung, dass dies die beste Idee seines Lebens gewesen sei und dass er diesen Schritt schon viel eher hätte machen sollen. Aber seine Branche ist eine sehr gefragte.

In meinem Metier der Dolmetscher und Übersetzer arbeiten die meisten von Anfang ihres Berufslebens an als Freiberufler. Die Anzahl angestellter Sprachmittler hat in den letzten 30 Jahren kontinuierlich abgenommen. Die Pandemie hat bei einem Teil der Freiberufler unserer Branche, der schon vorher z. T. in prekären Verhältnissen lebte, zu großen existenziellen Sorgen geführt. Vor allem bei den Dolmetschern kam es zu dramatischen Umsatzrückgängen. Nur bei einem Teil der Kunden konnte das Dolmetschen durch digitale Lösungen ersetzt werden.

Bei allen Vorteilen (wie z. B. Selbstbestimmung, freie Zeiteinteilung, Flexibilität, die Möglichkeit, die eigene Kreativität auszuleben, bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie) hat die Tätigkeit als Freelancer auch ihre Schattenseiten: kein „Schutz“ durch einen festen Arbeitsvertrag, durch Gewerkschaften, Einsamkeit, psychischer Druck bis hin zur Existenzangst.

Kalt den Rücken runterlaufen lassen z. B. Bilder im Dokumentarfilm „Der marktgerechte Mensch“ von Leslie Franke und Herdolor Lorenz zum möglichen Arbeitsalltag von Dolmetschern: allein vor notwendigem technischen Equipment in kleinen schallisolierten Kammern ohne Fenster sitzend, ohne direkten Kontakt zu den Menschen, für die gedolmetscht wird. Das ist nicht nur verheerend für die Qualität des Vorgangs, sondern auch für die Psyche des Dolmetschenden. Teilen womöglich Algorithmen Dolmetscheinsätze zu und überwachen sie? Die heutige Technik lässt solche Arbeitsmodelle bereits zu.

Die Gesellschaft ist aufgefordert, an der sozialen Absicherung von Selbstständigen zu arbeiten, Lösungen zu finden, um die die Ungleichstellung von Selbstständigen und Angestellten zu überwinden. Das wäre u. a. eine Aufgabe der Steuerpolitik sowie der Agentur für Arbeit.

Wenn die Rahmenbedingungen stimmen, werden die Freiberufler mit ihren Fähigkeiten zur Selbstmotivation, zum lebenslangen Lernen, zu Erfindungsreichtum und Flexibilität ihren Weg schon machen und die Gesellschaft bereichern. Sie werden auf neuen Wegen die Vereinzelung überwinden und von altem Konkurrenzdenken zu modernen Formen der Zusammenarbeit finden. Und sie werden besser gerüstet sein für Krisen.

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